Thema des Tages

16-01-2021 09:50

Angespannte Lawinensituation in den Alpen


Nach ergiebigen Schneefällen an den Nordalpen besteht eine erhebliche
bis große Lawinengefahr, die bereits erste Opfer gefordert hat. Wie
ist der derzeitige Schneedeckenaufbau gekennzeichnet und welche
dominierenden Lawinen-Gefahrenmuster ergeben sich daraus?


Bei der Beurteilung der Lawinensituation lassen sich je nach
Wetterlage und Schneedeckenaufbau typische, immer wiederkehrende
Gefahrensituation verifizieren. Anhand von jahrelangen Untersuchungen
von Lawinenereignissen wurden zehn typische Gefahrenmuster
erarbeitet, die in den täglichen alpinen Lawinenlageberichten
Erwähnung finden. Anhand der Wettersituation der letzten Woche sind
aktuell zwei Muster dominierend, die heute kurz vorgestellt werden
sollen: 1. Schnee nach langer Kälteperiode; 2. Lockerer Schnee und
Wind.

Während sich auf der Alpensüdseite vor allem Anfang Dezember in
mehreren Schüben richtige Schneemassen abluden, war die Situation in
den (bayerischen) Nordalpen bisher eher durch unterdurchschnittliche
Schneemengen geprägt. Die mittleren Lagen der bayerischen Alpen um
1000 m wiesen bis zum Ende der ersten Januardekade meist nur dürftige
Schneehöhen um 5 bis 15 cm auf. Auch in den Lagen darüber ließen sich
nur etwa 20 bis 40 cm Schneeauflage finden. Diese Altschneedecke war
über das vergangene Wochenende und zu Beginn dieser Woche einer
längeren Kälteperiode ausgesetzt war, die in den Nächten teils mit
deutlich zweistelligen Tiefstwerten einherging.

Durch die Kälteperiode konnten sich die oberflächennahen Schichten
der Altschneedecke aufbauend umwandeln und es setzte sich zusätzlich
Oberflächenreif ab. Die Schneedeckenoberfläche bestand somit aus
kantigen, lockeren Schneekristallen, deren Festigkeit untereinander
im Allgemeinen relativ gering ist. Am Dienstag brachte dann eine
erste Front von Nordwesten her etwas Schnee in weite Teile
Deutschlands und lud diesen schließlich auch im Nordstau der Alpen
ab. Insgesamt kamen in den Hochlagen etwa 15 bis 20 Zentimeter
Neuschnee hinzu. Die Kombination aus vorheriger Kälteperiode und
Neuschnee bildet somit die Grundlage für das unfallträchtige
Gefahrenmuster "Schnee nach langer Kälteperiode". Zusätzlich kam ein
stürmischer Nordwestwind ins Spiel, der vor allem in
Windschattenhängen größere Mengen frischen Triebschnee auf dem
Altschnee ablagerte. (Hier greift dann zusätzlich auch das zweite
Gefahrenmuster "Lockerer Schnee und Wind", dass in den nachfolgenden
Abschnitten noch eingehender betrachtet wird.) Die Verbindung
zwischen der oberflächennahen Schwachschicht des Altschnees und den
Neuschnee- bzw. Triebschneepaketen ist dabei untereinander sehr
schlecht. Somit ist die Schneedecke durch geringe Zusatzbelastung
störanfällig. Es reicht zum Beispiel schon ein einzelner Skifahrer
oder Tourengeher, um die Schwachschicht zu stören und eine
Schneebrettlawine auszulösen. Der Lawinenwarndienst Bayern stufte die
Lawinensituation am Mittwoch bereits als erheblich ein, was bei 5
Stufen der Stufe 3 entspricht.

Vergangenen Mittwoch griff von Westen her eine relativ stationäre
Luftmassengrenze auf den Südwesten und den Alpenraum über und sorgte
bis zum Freitagvormittag für ergiebige Schneefälle (wir berichteten
an dieser Stelle bereits gestern darüber). Zwischen Werdenfelser Land
und Allgäu kamen dabei zwischen 40 und 75 cm lockerer, trockener
Neuschnee zusammen. Auch abseits der Alpen konnten sich die
Neuschneemengen sehen lassen: Saarbrücken (16 cm), Freiburg (18 cm),
Konstanz (31 cm). Zwischen westlichem Bodensee und Schwarzwald
zeigten die Messungen sogar verbreitet 30 bis 50 cm.

Doch nun zurück an die bayerischen, respektive zentralen Nordalpen.
Die Kombination von lockerem, trockenen Neuschnee und zumindest in
den Kammlagen zeitweilig böigem Wind führte zu Verfrachtungen und
damit zu einer weiteren Zunahme der Lawinengefahr. Der von Wilhelm
Paulcke in den 1930ern geprägte Satz: "Der Wind ist der Baumeister
der Lawinen." gilt daher auch heute noch unverändert fort. Je kälter
dabei der verfrachtete Schnee ist, desto empfindlicher reagiert
dieser auf Belastung, weil die Sprödigkeit zunimmt. Charakteristisch
für das Gefahrenmuster "lockerer Schnee und Wind" ist, dass die
Schwachschicht meist aus lockerem Neuschnee besteht und von größeren
Triebschneeansammlungen überlagert wird. Aufgrund dieser Kombination
wird derzeit in den Bayerischen Alpen, sowie auch in den benachbarten
Regionen der Schweiz und Österreich von einer erheblichen bis großen
Lawinengefahr ausgegangen. Dabei können sich an vielen Steilhängen
von selbst oder nur durch geringe Zusatzbelastung mittlere bis große
Locker- und Schneebrettlawinen entwickeln. Die Lawinensituation
bleibt vorerst angespannt, zumal ab dem morgigen Sonntag von Westen
her neue Schneefälle an den Alpen aufkommen. Bis Montag ergeben sich
dabei Neuschneemengen von 20 bis 30, in Staulagen des Allgäus auch
bis 50 Zentimetern. Touren im freien Gelände sollten aktuell
vermieden oder nur mit sehr gutem lawinenkundlichem Wissen und
entsprechender Ausrüstung vorgenommen werden. In aller Regel ist das
Gefahrenmuster "lockerer Schnee und Wind" jedoch von relativ kurzer
Dauer, da sich nach Beendigung des Schnee- und Windereignisses die
Schneedecke allmählich zu setzen beginnt.


M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 16.01.2021

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